Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Ida Slavina

Ida Slavina wurde 1921 geboren. Ihre Eltern kamen aus dem jüdischen Siedlungsgebiet in Weißrussland. Der Vater Ilja Slavin (1883–1938) strebte zunächst eine religiöse Laufbahn an, absolvierte dann aber eine Ausbildung als Apotheker und schaffte es, trotz der für Juden geltenden Beschränkungen einen Studienplatz in Charkow zu erlangen. Während des Studiums lernte er seine spätere Frau Esfir Fainstein (1885–1964) kennen.
Nach der Revolution arbeitete Ilja Slavin zunächst als Jurist in Weißrussland und ab 1920 in Moskau, wo er an der Ausarbeitung eines sowjetischen Strafrechtes mitwirkte. Seit 1903 Mitglied der Partei „Arbeiter Zions“, die sich für einen sozialistischen Staat in Palästina einsetzte, schloss sich Ilja Slavin unter dem Eindruck der Revolution der kommunistischen Bewegung an. Ida wurde – wie ihr Bruder Isaak (1912–1959) – ganz im Sinne des Sowjetsystems erzogen und war bereits als Kind politisch aktiv.
1930 zog die Familie nach Leningrad, wo Ilja Slavin für die politische Neuausrichtung der Rechtswissenschaft sorgen sollte. Er wurde Mitglied in der Kommunistischen Akademie und bezog für die sowjetische Gesellschaftsordnung Stellung. Als er eine Abhandlung über die „Umerziehung“ durch Zwangsarbeit schreiben und das stalinistische Lagersystem rechtfertigen sollte, entstanden bei ihm jedoch Zweifel. Mit der Realität des Gulag konfrontiert, konnte er das gewünschte Ergebnis nicht liefern.
Im November 1937, am Geburtstag seiner Tochter, wurde Ilja Slavin vom NKWD verhaftet und bald darauf erschossen. Esfir Slavina wurde im April 1938 festgenommen und zu acht Jahren Haft verurteilt. Sie kam ins „Arbeitslager für Ehefrauen von Vaterlandsverrätern“ (ALShIR) in Akmolinsk, aus dem sie erst 1943 wegen Invalidität wieder entlassen wurde. Wie ihr Bruder Isaak, der eine Karriere als Physiker eingeschlagen hatte, war Ida als Kind eines „Volksfeindes“ von Verhaftung bedroht. Unterstützer aus ihrer Schule bewahrten sie jedoch vor weiterer Repression. Auch, als sie ein Studium aufnehmen wollte, konnte sie auf „stille Helfer“ zählen.
Um die politische Loyalität ihrer Familie zu beweisen, meldete sich Ida nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 sofort freiwillig zum Kriegsdienst. Während der Leningrader Blockade wurde sie nur durch Initiative ihres Onkels gerettet, der half, sie mit nach Sibirien zu evakuieren. Da sie einige Semester an der Pädagogischen Hochschule studiert hatte, konnte Ida dort als Lehrerin arbeiten. Nach Ende der Evakuierung schloss sie ihr Studium ab und kehrte 1945 nach Leningrad zurück. 1949 erhielt Ida wieder eine Anstellung – an jener Schule, die sie zuvor selbst besucht hatte. Obgleich mit Antisemitismus konfrontiert, konnte sie dort über Jahrzehnte als Lehrerin wirken. Auch in der Öffentlichkeit und der Wissenschaft wurde sie als Pädagogin bekannt.
Seit den 1950er-Jahren ging Ida Slavina nach und nach auf Distanz zum Sowjetregime. Vorausgegangen war die erneute Verhaftung der Mutter. Sie war ohne behördliche Genehmigung nach Leningrad gekommen, um der Tochter nach der Geburt des Sohnes und dem Tod des Mannes beizustehen, wurde daraufhin festgenommen und für längere Zeit verbannt. Nach dem Tod Stalins setzte sich Ida Slavina für die Rehabilitierung ihrer Eltern ein. Und durch weitere Nachforschungen erfuhr sie nach und nach die Wahrheit über das Schicksal des Vaters.
Ab Ende der 1980er-Jahre setzte sich Ida Slavina als Mitglied der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ für das Gedenken an die Opfer und die kritische Aufarbeitung des Stalinismus ein. Als die Familie ihres Sohnes aus politischen Gründen nach Frankreich ausreiste, begann sie sich auch mit der Auswanderung zu befassen. Mit 75 Jahren ging sie nach Deutschland und ließ sich in Köln nieder. In der Jüdischen Gemeinde wirkte sie beim Seniorenklub „Unser Heim“ mit und war Mitbegründerin des russischsprachigen „Literatursalons“. Besonders wichtig neben der Familie ist ihr der Austausch mit den früheren Leningrader Schülern, von denen viele Russland auch verlassen haben.
Die Aufklärung über den stalinistischen Terror ist Ida Slavina weiter ein wichtiges Anliegen. Sie hat als Zeitzeugin an der BBC-Dokumentation „Hand of Stalin“ (1990) und einem Buchprojekt des britischen Historikers Orlando Figes über das „Leben in Stalins Russland“ (2007) mitgewirkt und widmet sich nun schon seit etlichen Jahren dem Schreiben. Ihre Erinnerungen an ihren Vater („Der dünne Nerv der Geschichte“) hat sie bereits vor einiger Zeit aufgeschrieben; derzeit verfasst sie ein Buch, das der Mutter und den Frauen des Gulag gewidmet ist.