Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Erwin Nagy

Erwin Nagy wurde 1930 in Moskau geboren. Seine aus Weißrussland stammende Mutter Fanja Sack (1896–1984) begrüßte die „proletarische Revolution“. Sie verließ früh das Elternhaus und ging nach Lugansk, später nach Charkow, wo sie ab Ende der 1920er-Jahre in der Presseabteilung des Stadtsowjets der Gewerkschaften tätig war. In einem Erholungsheim für Pressemitarbeiter lernte sie 1928 ihren Mann Akos (Alexej) Nagy (1897–1938) kennen.
Erwins Vater Akos (Aussprache: Akosch) stammte aus Ungarn, einer seiner beiden Brüder war der spätere Bauhauslehrer László Moholy-Nagy (1895–1946). Während des Ersten Weltkrieges geriet Akos Nagy in Gefangenschaft und kam so nach Russland. Er trat in die Kommunistische Allunions-Partei ein und arbeitete als Redakteur, zunächst im Fernen Osten, seit 1926 in Moskau.
Erwins Kindheit war von den Idealen des Kommunismus geprägt. Jüdische Traditionen, wie sie die Großeltern noch pflegten, hatten für ihn nur geringe Bedeutung. Erst später setzte er sich vor dem Hintergrund des in der Sowjetunion spürbaren Antisemitismus stärker mit dem Judentum auseinander.
1931 wurde Akos Nagy als Korrespondent der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS nach Tokio versetzt. So verlebte Erwin eine „japanische Kindheit“: geprägt von der Kultur und den Sehenswürdigkeiten des Landes und dem Leben in der Siedlung der internationalen Pressevertreter.
Die stalinistischen Säuberungen der 1930er-Jahre trafen auch Erwins Vater. Nachdem er denunziert worden war, musste er 1937 von Tokio nach Moskau zurückkehren. Dort wurde er von der Geheimpolizei vernommen; die Parteiführung leitete gegen ihn und seine Frau ein Ermittlungsverfahren ein. 1938 wurde Akos Nagy vor den Augen seines Sohnes vom NKWD verhaftet. Wenig später wurde er wegen Beteiligung an einer „antisowjetischen, terroristischen und Sabotageorganisation der Rechten“, „Spionage für Japan“ und anderer haltloser Vorwürfe hingerichtet. Frau und Kind ließ man darüber bis Mitte der 1950er-Jahre im Unklaren.
Nach der Verhaftung des Mannes versuchte Fanja Nagy sich und Erwin als Buchhalterin und Krankenschwester durchzubringen – unter steter Überwachung des NKWD. Als der Zweite Weltkrieg 1941 ihren Wohnort Babuschkin („Losinka“) bei Moskau erreichte, entschloss sie sich zur Evakuierung. Die folgenden Jahre erlebten Erwin und seine Mutter in einem sibirischen Dorf, wo sie nach und nach von den Folgen des Krieges und deutscher Besatzung erfuhren. Auch ein Großvater Erwins, seine Tante Mera und deren kleine Tochter wurden ermordet.
Nach der Rückkehr aus der Evakuierung fand Fanja Nagy nur durch besondere Hilfe Arbeit als Lehrerin. Erwin beendete 1949 die Schule. Als Sohn eines „Volksfeindes“ hatte er große Probleme einen Studienplatz zu bekommen; zudem setzte zu diesem Zeitpunkt eine starke antisemitische Kampagne ein. Erwin beschloss jedoch, den Behörden seine Familiengeschichte nicht zu verschweigen. Die für das Studium notwendige finanzielle Unterstützung erhielt er von seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter.
Nachdem er die Moskauer Hochschule für Energetik absolviert hatte, war Erwin Nagy als Ingenieur in der Kabelindustrie tätig. Als solcher wurde er bei Reparaturarbeiten nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl eingesetzt. 1955 heiratete er die Medizinstudentin Rachil Nazkina, 1956 bekam das Paar die Tochter Svetlana.
Wie viele Verwandte entschied sich Erwin Nagy zur Auswanderung und siedelte 1994 nach Deutschland über. Dort widmete er sich dem Reisen mit seiner – 2011 verstorbenen – Frau, seiner bereits in der Sowjetunion entwickelten Leidenschaft fürs Filmen und dem Aufschreiben seiner Erinnerungen. Bereits 2001 erschien Erwin Nagys Buch „Das Vergangene in meinem Gedächtnis. Japan – Russland – Deutschland“ (auf Deutsch 2008). Darin schildert er wichtige Ereignisse seines Lebens, die Kindheit in Japan, die Repression der Eltern und seine Abwendung von der Sowjetideologie. Und er berichtet vom Vater, dessen wahres Schicksal er erst durch die Rehabilitierung nach Stalins Tod und die Öffnung der Akten im Zuge der Perestroika erfuhr. Darüber zu schreiben war, wie Erwin Nagy sagt, „eine Erleichterung. Ich habe mich befreit und meine Gefühle auf Papier gebracht“.