Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Berl Kostinski

Berl (Boris) Kostinski wurde am 24. Dezember 1920 in dem ukrainischen Städtchen Chabnoje (Chabne, 1936–1957 Kaganowitschi, seit 1957 Polesskoje/Poliske) als viertes von sechs Kindern des Handwerkers Schmuel-Sajwel Kostinski und seiner Frau Brajndl geboren. Er besuchte zuerst die jüdische, dann die ukrainische Schule, die er mit Auszeichnung abschloss. 1938 nahm er in Kiew ein Mathematikstudium auf, 1939 wechselte er an das Kaganowitsch-Institut in Charkow, um Jura zu studieren. 1940 wurde er zum Militärdienst eingezogen und aufgrund seiner Deutschkenntnisse als Dolmetscher in der Aufklärungsabteilung der 80. “Donbass-Proletariat”-Division eingesetzt.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde die Einheit von Berl Kostinski, die zur 6. sowjetischen Armee gehörte, südlich von Kiew von der Wehrmacht eingekesselt. Bei dem erfolglosen Versuch, die Einkesselung zu durchbrechen, wurde Berl Kostinski am 6. August 1941 schwer verwundet. Als er zwei Tage später von einem deutschen Soldaten entdeckt wurde, gab er sich geistesgegenwärtig als Hans Vogeler, Sohn deutscher Eltern, aus, um der drohenden Erschießung als Jude und “Politruk” zu entgehen. Nach medizinischer Versorgung wurde Berl Kostinski ins Reich transportiert und durchlief vier Kriegsgefangenenlager. Als angeblicher Volksdeutscher erfuhr er eine bessere Behandlung als andere Rotarmisten, musste aber ständig fürchten, “enttarnt” zu werden.
Ab August 1942 arbeitete Berl Kostinski als Dolmetscher für sowjetische Zwangsarbeiter, zunächst in einer Textilfabrik in Falkenburg, dann in der Rüstungsfirma Bücker Flugzeugbau in Rangsdorf bei Berlin. Im Mai 1944 erhielt er eine Vorladung der Volksdeutschen Mittelstelle zur Überprüfung seiner deutschen Abstammung. Obwohl er die Untersuchung überstand, ohne Verdacht zu erregen, beschloss er, erneut seine Identität zu wechseln. Er wollte nicht riskieren, in die Wehrmacht einberufen zu werden, und meldete sich daher als Russe Boris Kostin mit seiner Freundin, einer sowjetischen Zwangsarbeiterin, in einem Durchgangslager in Gotenhafen (Gdynia/Gdingen) an. Von dort aus wurde er nach Westdeutschland transportiert und ab Ende August 1944 in Leverkusen als “Ostarbeiter” bei I.G. Farben (Bayer A.G.) eingesetzt. Berl Kostinski, der am 13. März 1945 durch einen Splitter am Hals schwer verletzt wurde, erlebte am 15. April 1945 in Leverkusen die Befreiung.
Bei der Repatriierung im Sommer 1945 wurde Berl Kostinski von seiner Familie getrennt. Nachdem man ihn mit anderen ehemaligen Kriegsgefangenen in Magdeburg eingeliefert hatte, wurde er zur Arbeit nach Tscheljabinsk im Ural geschickt, wo er bis April 1946 „filtriert“ (überprüft) wurde. 1949 wurde er im Kontext der Kampagne gegen „Kosmopoliten“ entlassen. Als Jude und Repatriant konnte er keine andere Stelle finden, schließlich kehrte er in die Ukraine zurück, wo ihm ein Schulfreund eine Stelle als Dorflehrer besorgte.
Damit endete aber noch nicht sein Leidensweg: Am 16. April 1951 wurde Berl Kostinski verhaftet und wegen angeblichen Hochverrats, begangen während der Kriegsgefangenschaft, zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Er kam in das nördlich des Polarkreises gelegene “Berglager” Norilsk (Speziallager Nr. 2). An dem Norilsker Häftlingsaufstand, der im Sommer 1953, nach Stalins Tod, ausbrach, beteiligte sich auch seine Lagerabteilung.
Berl Kostinski wurde im Juli 1956 vorzeitig aus dem Gulag entlassen, aber erst 1987 durch das Plenum des Obersten Gerichts der UdSSR rehabilitiert. Er absolvierte ein Fernstudium und arbeitete als Schullehrer und Dozent in verschiedenen Orten in der Ukraine. Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe heiratete er erneut. 1996 wanderte Berl Kostinski mit seiner Frau und seiner Tochter nach Deutschland aus und ließ sich in Bonn nieder. Er hat zwei Bücher in deutscher und russischer Sprache über sein Leben verfasst: „Der bittere Kelch meines Leidens“ (2004) und „Mein Name war CH-555“ (2006).