Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Wladimir Babuschkin

„Wladimir Babuschkin“, wie er genannt werden möchte, kam Ende der 1920er-Jahre in Weißrussland zur Welt, im Schtetl Propojsk im Gebiet Mogiljow. Sein Vater Tewel (1903–1943) arbeitete als Fuhrmann, die Mutter Bassia (1905–1941) kümmerte sich um die drei Söhne. Da der Großvater väterlicherseits durch die Zwangskollektivierung sein Gehöft mit Vieh und Land verloren hatte, stand die Familie der Revolution distanziert gegenüber.
Wladimir wurde atheistisch erzogen. Zu Hause sprach man, wie fast im ganzen Ort, Jiddisch. Zunächst besuchte der Junge die jüdische Schule, war aber bald gezwungen, auf eine weißrussische Schule zu wechseln. Dass Wladimir neben Weißrussisch auch Russisch gut beherrschte, sollte sich im Krieg als lebenswichtig erweisen.
Im Juni 1941 wurde die Familie auseinander gerissen. Wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion musste Wladimirs Vater den Dienst bei der Roten Armee antreten; er kam 1943 im Einsatz um. Viele der Verwandten gingen an die Front: neben den Onkeln auch zwei Tanten, die als Ärztinnen im Armeedienst oder bei den Partisanen gegen die Besatzer kämpften. „Kein ‚Babuschkin‘ wollte sich damals verstecken. Wir mussten uns wehren“, erzählt Wladimir, „entweder an die Front oder ermordet werden“.
Nachdem der Vater eingezogen war, versuchte die Mutter Bassia, mit den Kindern und anderen Verwandten nach Osten, Richtung Russland, zu fliehen. Die deutschen Truppen schnitten jedoch den Weg ab. Da die Familie auch von Einheimischen bedroht wurde, kehrte sie zurück nach Krasnopolje, in die Nähe ihres Heimatortes. Dort wurde sie zunächst ins Ghetto gesperrt. Im Herbst 1941 fielen die jüdischen Einwohner des Ortes mehreren Mordaktionen zum Opfer – zunächst die Männer, dann die Frauen und Kinder. Wladimir verlor dabei seine Mutter und die Brüder Jefim und Jakow. Er selbst entging diesem Schicksal nur, weil er auf der Suche nach Essbarem kurz das Ghetto verlassen hatte.
Nach der Flucht versuchte Wladimir zunächst in der Umgebung von Kransopolje unterzutauchen. Um nicht entdeckt zu werden, wechselte er von Versteck zu Versteck; er bekam Hilfe, wurde aber auch abgewiesen und entging mehrfach nur knapp der Verhaftung. In dieser Zeit legte er auch seinen ursprünglichen Namen ab und nannte sich „Babuschkin“. Zu Fuß und per Bahn gelangte Wladimir schließlich über Gomel und Kiew bis in die östliche Ukraine. Im Januar 1942 erreichte er die Stadt Pjatichatki, etwa 800 km von seinem Heimatort entfernt. Dort konnte er überleben, bis die Rote Armee im September 1943 die Stadt erreichte. Trotz seines jungen Alters meldete sich Wladimir sofort zum Militär. Zunächst war er bei einer Versorgungstruppe; später wechselte er zu einer Fronteinheit und wirkte mit, als Südost- und Mitteleuropa von der NS-Herrschaft befreit wurden.
Nach dem Krieg erfuhr Herr Babuschkin vom Schicksal seiner Verwandten. Während die Schwester des Vaters, Tante Sara (geb. 1905), mit ihrem Mann und drei Kindern auf besetztem Gebiet ermordet wurde, kam der Onkel Isaak (geb. 1911) als Soldat in den ersten Kriegstagen in der Brester Festung ums Leben. Wladimirs Tante Rosa (geb. 1915) wurde als Militärärztin im Armeeeinsatz mehrfach verwundet, seine Tante Wera (geb. 1918) geriet in Kriegsgefangenschaft. Bevor sie dort als Jüdin identifiziert werden konnte, floh sie aus dem Lager, schloss sich einer Widerstandsgruppe an und beteiligte sich ab 1943 wieder in der Roten Armee an den Kämpfen gegen die deutschen Verbände.
Unter den wenigen Überlebenden seiner Familie war auch Wladimirs Onkel Abram (1921–2005), der bei der sowjetischen Kriegsmarine gedient hatte und nach dem Krieg in Lettland wohnte. Auf seine Anregung hin zog Wladimir 1947 nach Riga, das seitdem sein Lebensmittelpunkt war. Er arbeitete im Baugewerbe, war nach erneutem Militärdienst als Zuschneider tätig und erwarb nach dem Besuch des Technikums in den 1960er-Jahren ein Diplom für Technologie. Es folgten Anstellungen als Fahrer, Schlosser, Ingenieur oder Mechaniker in Gasversorgungs- oder Transportbetrieben.
Anfang der 1990er-Jahre nutzte Wladimir Babuschkin die Möglichkeit, Lettland zu verlassen. Er folgte seiner Tochter und deren Familie; mit ihm ging seine langjährige, inzwischen von ihm geschiedene Frau. Herr Babuschkin lebte zunächst in Nürnberg, folgte jedoch bald der Tochter nach Düsseldorf.
Zu seinen Freunden und Verwandten in Lettland, den USA oder Israel pflegt Wladimir Babuschkin lebhaften Kontakt. Seine Gedanken sind jedoch auch stets bei der Heimat, wo sich die Gräber vieler Angehöriger befinden. Über seine Erlebnisse unter deutscher Besatzung hat er lange nicht gesprochen, weil sie zu belastend waren. Inzwischen hat er seine Erinnerungen jedoch aufgeschrieben – damit sie den Kindern auch künftig zur Verfügung stehen.