Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Maria Vinogradova

Maria Schechtman wurde am 16. August 1929 als Tochter von Jakow (1898–1944) und Rewekka (1900–1942) Schechtman geboren. Zwei jüngere Brüder, Boris und Viktor, kamen 1930 und 1937 auf die Welt. Die Familie lebte in der ukrainischen Kleinstadt Wassilkow in der Nähe von Kiew. Mayas Vater war Vorsitzender einer Schneidergenossenschaft, ihre Mutter leitete einen Kindergarten, wurde aber entlassen, weil sie auf eigene Initiative einen Nutzgarten angelegt hatte, um die Kinder besser versorgen zu können. Nach Kriegsausbruch zog die Familie zu den Großeltern in Kiew. Der Vater wurde einberufen, er galt seit 1944 als vermisst. Die Mutter wurde mit ihren drei Kindern und weiteren Verwandten von Kiew in die Kosakensiedlung Selentschuk im nördlichen Kaukasus (Autonomes Gebiet Karatschajewo, seit 1991 Republik Karatschai-Tscherkessien) evakuiert. Aufgrund des deutschen Vormarschs mussten sie 1942 weiterfliehen, zunächst nach Kisljar (Dagestan). Dort erkrankte die Mutter schwer an Malaria. Als es ihr wieder besser ging, versuchte sie, mit ihren Kindern nach Sibirien zu einer Schwester zu gelangen. Über Baku und Krasnowodsk (Türkmenbaşy, Turkmenistan) fuhr die Familie mit Schiff und Bahn nach Tschimkent (Schymkent, Süd-Kasachstan). Auf dem Weg wurde der jüngste Bruder krank und musste in einem Krankenhaus zurückgelassen werden. Erst nach dem Krieg gelang es Frau Vinogradova, ihn ausfindig zu machen, er lehnte aber den Kontakt zu seiner Familie ab.
In Tschimkent erkrankte die Mutter erneut und musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Maya und Boris wurden in eine Kindersammelstelle und im August 1942 in ein Waisenhaus gebracht, das sich im 80 km entfernten Ort Arys befand. Fast alle Kinder dort stammten aus repressierten Familien – ihre Eltern waren inhaftiert oder ermordet worden. Im Waisenhaus erkrankte Maya an Avitaminose (schwerem Vitaminmangel), was zur Lähmung ihrer Beine führte. Als sie nach einem Jahr wieder laufen konnte, fuhr sie nach Tschimkent, wo sie erfuhr, dass die Mutter am 18. November 1942 gestorben war.
Nach Kriegsende wurden die ukrainischen Kinder im Waisenhaus in die ostukrainische Donbass-Region zurückgeschickt. Maya setzte durch, dass auch ihr Bruder, der inzwischen in einer Handwerkerschule untergebracht worden war, mitfahren durfte. Maya kam in ein Waisenhaus im Dorf Nikolajpolje, Landkreis Druschkowka (bei Kramatorsk) und machte auf Initiative des Waisenhausdirektors in Donezk eine Ausbildung als Erzieherin im Pädagogischen Technikum. Danach arbeitete sie zwei Jahre lang im Waisenhaus mit Kindern deutscher Soldaten, deren ukrainische Mütter inhaftiert worden waren.
Um 1948 zog Maria Schechtman nach Kiew. Sie arbeitete als Verkäuferin und im Telegrafenamt und schloss in der Abendschule die zehnte Klasse ab. Danach machte sie eine Ausbildung als Schneiderin. Nach verschiedenen Stationen arbeitete sie bis zur Pensionierung als hochqualifizierte Zuschneiderin in einem Atelier für Damenunterwäsche.
Mit 27 Jahren heiratete Maria Schechtman den Fernsehtechniker Alexander Vinogradov (1929–1997). 1992 zog das Ehepaar nach Deutschland und ließ sich in Dortmund nieder. Als Grund für die Ausreise nennt Frau Vinogradova die schlechten Lebensbedingungen in Kiew Anfang der 1990er-Jahre. Frau Vinogradova ist bis heute in der Jüdischen Gemeinde Dortmund sehr aktiv. Sie geht regelmäßig in den Gottesdienst, ist Mitglied im Frauenverein und betreut die Nähstube, wo sie mit den anderen Frauen näht und bastelt.