Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich absolvierte 1945 die Schule. Die letzte Prüfung machte ich am 24. Juni, am Tag der Siegesparade. Alle waren natürlich entsprechend gestimmt. Gleich nach der Prüfung sollten wir uns an einer riesengroßen Demonstration beteiligen. Heute schreibt man, dass sie nicht stattgefunden hätte, nur die Parade.
  2. Auf dem Roten Platz warf man die Truppenfahnen dem Generalissimus vor die Füße. Und wir standen in der Nähe der Schule und meines Hauses fast in Moskaus Zentrum, am Denkmal für die bei Plewna gefallenen Grenadiere. Wir warteten, bis wir uns in die Kolonne einreihen durften. In dem Moment begann ein Platzregen, und die Demonstration wurde abgesagt.
  3. Wenn ich daran zurückdenke, meine ich immer, dass die Leute damals riesengroße Hoffnungen hegten: „Was es mal gab, ist vorbei.“ Darüber hat (Ilja) Ehrenburg viel geschrieben: Man hoffte, eine neue Zeit würde anbrechen. Der Platzregen war das Vorzeichen für die Bereinigung. Aber wie wir wissen, fand diese Bereinigung nicht statt. Das Leben ging weiter.
  4. Die Hoffnung, dass sich alles wendet und anders entwickelt, war vergeblich. Wir wissen, dass die sowjetische Führung mit Stalin an der Spitze eine ideologische Offensive in der Innenpolitik begann, die vielleicht noch intensiver war als im Krieg. Stalin kannte die historischen Gegebenheiten, und die Erfahrung von 1812 machte ihm Angst.
  5. Junge Offiziere und Soldaten hatten Europa erlebt und nach der Heimkehr gesehen, dass alles im eigenen Land verkehrt war. Stalin berücksichtigte die Erfahrung von Nikolaus I.: „Russland muss man einfrieren.“ Denn Europa hatte damals die Revolution von 1848 erlebt.
  6. Man wollte (also) den „eisernen Vorhang“ herunterlassen, und das wurde auf die brutalste und auf offene Weise getan, ohne lang zu fackeln. Es begann eine Folge von Beschlüssen, Sitzungen usw., die ständig auf bestimmte Leute einschlugen und ihnen die einzig wahre und unverbrüchliche Sicht des Staates entgegenstellten.